L’Alpe d’Huez (dpa) – Der Zuschauer-Wahnsinn von L’Alpe d’Huez sucht seinesgleichen im Profisport. Wenn sich die Rad-Asse der Tour de France am Donnerstag die 21 Kehren zur Skistation hochquälen, sorgen Hunderttausende Fans für ein beispielloses Spektakel.
Man stelle sich vor, Usain Bolt müsse zum 100-Meter-Sprint antreten mit brüllenden Anhängern auf den Laufbahnen just neben sich. Oder Tennisspielerin Angelique Kerber kämpfe in Wimbledon neben grölenden Leuten, die verkleidet und betrunken auf der Grundlinie stehend ausflippen. L’Alpe d’Huez bei der Tour ist wie Ballermann am Berg.
«Die Tour ist immer großartig mit den Zuschauern, aber Alpe d’Huez ist immer noch einen Tick verrückter», sagt Jens Voigt, mit 17 Teilnahmen an der Frankreich-Rundfahrt der deutsche Rekordstarter und mehrmalige Bezwinger der speziellen Serpentinen hoch auf 1850 Meter. Für Voigt ist Alpe d’Huez der legendärste Anstieg der Tour. Ein deutscher Fahrer hat die mythische Etappe noch nie gewonnen.
Die Organisatoren des härtesten Radrennens der Welt wissen um den Reiz dieses Dörfchens, das schon zum 30. Mal Etappenort ist. 1952 feierte die Tour ihre Premiere mit dem Sieg des italienischen Rad-Helden Fausto Coppi. Nach einer dann folgenden 24-jährigen Pause wurde Alpe d’Huez zum zweiten Mal angesteuert und gehört inzwischen neben den Pariser Champs-Élysées zum Abschluss fast zur Stammstrecke.
Die Fahrer blicken der Kletterei und den erschwerten Bedingungen mit gemischten Gefühlen entgegen. «Das ist schon ein spektakulärer Berg. Aber wenn man unten rein fährt ist man eher froh, dass es in ein paar Kilometern vorbei ist», sagte Rick Zabel vom Team Katusha-Alpecin. Als Sprint-Anfahrer sind die Berge nicht sein Lieblingsterrain.
Bis auf die Tagessieger ewiger Ruhm sowie die schriftliche Verewigung in einer Kehre warten, heißt es aber, sich an den Fans vorbei zu kämpfen. Dicht gedrängt verengen die Zuschauer die Fahrbahn, viele campen schon Tage vor der Etappe am Straßenrand. «Ein Haufen junger Leute, die stehen in guter Stimmung am Berg und trinken Bier den ganzen Tag», erzählte Voigt der ARD. «Die sind teilweise sturzbetrunken wenn die Fahrer dann ankommen fünf Stunden später.»
Zwischenfälle stehen etliche in den Annalen der Tour. Voigt selbst etwa wurde bei einem Bergzeitfahren 2004 hinauf nach L’Alpe d’Huez von deutschen Fans bespuckt und fast vom Rad geholt, weil er am Vortag dem – gegnerischen – Telekom-Kapitän Jan Ullrich nicht einen Ausreißversuch gestattete. Ullrichs Teamkollege Giuseppe Guerini war 1999 allein in Führung liegend mit einem fotografierenden Fan kollidiert – der Italiener stand wieder auf und gewann doch noch knapp. Dem damals dopingverdächtigten Alberto Contador rückte 2011 ein als Arzt verkleideter Zuschauer mit einem Stethoskop derart nahe, dass sich der Spanier in voller Fahrt mit einem Faustschlag wehrte.
«Es ist recht gefährlich, durch die Zuschauer zu fahren, denn die haben einen halben Hitzeschlag und sind teilweise nicht mehr zurechnungsfähig», schildert Voigt. Das Epizentrum der Fanparty ist die sogenannte Holländer-Kurve etwas über der Hälfte des Berges, unterhalb einer Kapelle und eines kleinen Bergfriedhofs. Dort versammeln sich Tausende Niederländer in den buntesten Verkleidungen, der Asphalt wird orange eingefärbt, laute Musik dröhnt aus Boxen.
In den 70er und 80er Jahren siegten niederländische Fahrer gleich reihenweise auf der Alpe, daher kommt die Begeisterung. In Tom Dumoulin haben die radsport-verrückten Oranjes nach Jahrzehnten Pause übrigens wieder einen potenziellen Alpe-d’Huez- und Gesamtsieger. Nach seinem zweiten Platz im Frühjahr beim Giro d’Italia hinter Chris Froome will er den britischen Favoriten diesmal bezwingen. Und wer weiß, was passiert, wenn etwa Froome und Dumoulin nebeneinander in die Holländer-Ecke einbiegen?
Fotocredits: Peter Dejong
(dpa)